Die Abstiegsgesellschaft by Nachtwey Oliver

Die Abstiegsgesellschaft by Nachtwey Oliver

Autor:Nachtwey, Oliver
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-03-12T16:00:00+00:00


Abstieg, Statusangst und prekäre Mitte

Ausgehend von Befunden zu ihrem Schrumpfen, hat sich in Deutschland in den letzten Jahren eine lebendige Diskussion über die Mittelschicht entwickelt. Die Mitte war im Nachkriegsdeutschland stets mehr als eine soziale Ortsangabe. Sie galt und gilt in der öffentlichen Debatte als Stabilitätsanker, als Referenzpunkt gesellschaftlicher Normalität, als Integrationsinstanz und nicht zuletzt als Chiffre für soziale Durchlässigkeit und Aufstieg. Kein Wunder, dass sich die deutsche Gesellschaft ihrem Selbstverständnis nach als eine Gesellschaft der Mitte ausdeutet (Münkler 2010).

Allerdings ist gleichzeitig umstritten, was die Mitte nun genau ausmacht – außer eben ihr Platz zwischen oben und unten. Die webersche Unterscheidung zwischen Besitz- und Erwerbsklassen aufnehmend, kann man näherungsweise sagen, dass die Angehörigen eher von ihrem Einkommen abhängig sind; Immobilienbesitz spielt zwar eine gewisse Rolle, große Vermögen sind in der Regel aber nicht vorhanden. Zu dieser Klasse zählen Handwerker und Händler, Kaufleute und Landwirte, also der alte Mittelstand, ebenso wie Beamte sowie Freiberufler und in jüngster Zeit vermehrt qualifizierte Angestellte und Facharbeiter. Zu ihrem Berufsprofil gehören zumeist ein gehobener Bildungsgrad, eine qualifizierte Tätigkeit, Prestige, ein sicherer Status und ein gutes Einkommen. In ihrem Selbstverständnis dominieren bestimmte kulturelle Werte wie Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft (vgl. Mau 2012; Münkler 2010; Heinze 2011). Aber entgegen ihrem Selbstbild, sich den Wohlstand allein und durch Leistung verdient zu haben, sind die Angehörigen der Mittelschicht hochgradig von institutionellen Absicherungen, von der »formativen Kraft« des Sozialstaates, abhängig (Vogel 2009). Viele von ihnen sind im öffentlichen Dienst angestellt; Kindergeld, Gesundheitsvorsorge und die progressive Einkommensteuer stützen ihre Lebensführung. Auf der anderen Seite ist es allerdings auch die Mitte, die den Sozialstaat wie keine andere Gruppe trägt (vgl. Münkler 2010, S. 49).

Seit einigen Jahren, im Windschatten der Prekarisierung der Arbeit, gilt die Mitte nun jedoch als gefährdet. Gerade weil ihre Angehörigen meist nicht auf das Polster von Eigentum oder Vermögen zurückgreifen können, sind sie vom sozialen Abstieg bedroht. Robert Castel hat in seiner historischen Analyse der Arbeitsgesellschaft Frankreichs ein Zonenmodell zur Klassifikation neuer sozialer Unsicherheiten vorgeschlagen (vgl. Castel 2000, S. 360ff.). Dabei geht es ihm weniger darum zu vermessen, ob und inwieweit die Einkommensmitte schrumpft. Die Typologie, wie Castel sie vorschlägt, erweitert die materiellen Bedingungen Einkommen, berufliche Position, Arbeitsplatzsicherheit, soziale Sicherung und Vermögensbildung um die Perspektive der Lebensführung und subjektiven Verarbeitung. Dabei geht es nicht allein um den gegenwärtigen Status der Beschäftigten, sondern auch um die gewachsene Wahrscheinlichkeit und die zunehmenden Sorgen in Bezug darauf, einen sozialen Abstieg zu erleiden.[31] Prekarität resultiert schließlich in der Erosion sozialer Netzwerke, in verschlechterten Teilhabechancen und der verminderten Möglichkeit einer geplanten, zukunftsorientierten Lebensführung. Die Betroffenen erfahren sie als Sinnkrise und als Verlust ihrer sozialen Reputation. Castel unterscheidet drei Zonen, eine »Zone der Integration«, eine der »Verwundbarkeit« und eine der »Entkopplung«. In der Zone der Integration sind Normalarbeitsverhältnisse die Regel und soziale Netzwerke intakt. Dort angesiedelt sind aber auch bestimmte Gruppen mit »atypischen« Beschäftigungsverhältnissen – etwa hoch qualifizierte freiberufliche Ingenieure –, die aufgrund ihrer Marktposition sozial integriert sind und sich subjektiv nicht unsicher fühlen. In der Zone der »Verwundbarkeit« herrscht unsichere Beschäftigung vor, und die subjektive Sicherheit wie auch die sozialen Netze erodieren.



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